Walter Schwab | Hensoldt Publica

Die Hensoldt Publica

Die Geschichte der Hensoldt Kamera

Text und Fotos: Walter Schwab
In Zusammenarbeit mit dem ZEISS Archiv in Jena

Auf einer Liste der deutschen Kamerahersteller erwartet man nicht unbedingt den Namen „Hensoldt“, der landläufig eher mit lichtstarken Ferngläsern, Zielfernrohren und Mikros­kopen verknüpft ist. Aber kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs hat die Wetzlarer Firma M. Hensoldt & Söhne auch Kleinbild-Kameras gefertigt. Eigentlich nur eine kleine Vorserie, fast noch Prototypen. Das Modell hieß PUBLICA, und nach den vorliegenden Dokumenten gab es davon genau 42 Exemplare.

 

 Die Hensoldt Ingenieure hatten der Kamera so­gar ei­nen richtigen „Meß­sucher“ ein­ge­baut, damals mo­dern­ste und anspruchsvolle Foto­technik, die im Bild­sucher die richtige Scharfeinstellung anzeigte: Der Fotograf schaut durch den Sucher und dreht am Entfernungs­­ring des Objektivs, bis in der Bildmitte das sichtbare Doppelbild zu einem einzigen Bild ver­schmilzt … und löst aus! Die übrigen technischen Details der Kamera waren aber eher bescheiden, wie weiter unten gezeigt wird.

 

Hensoldt Publica

Die Ausgangssituation

Seit 1936 war die Contax II aus dem ZEISS Ikon Werk in Dresden tech­nisch die führende Kamera im Klein­bildbereich. Sie war die erste Meßsucherkamera welt­weit, besaß einen Bajonett­anschluss und licht­­starke Objektive wie das Sonnar 1,5/50 mm. Als Contax III war sie sogar mit Selen-Belichtungsmesser erhältlich. Und das alles übrigens 18 Jahre vor Einführung der Leica Meßsucher-Kamera, der LEICA M.

 

Die Konkurrenz aus Wetzlar war im Wesentlichen die damalige Leica IIIc, die das alles nicht hatte, aber dafür kleiner, leich­ter, billiger und Teil eines größeren Kamerasystems war. 1945 hatte das Wetz­larer Leitz Werk im Gegen­satz zum ZEISS Ikon Werk in Dresden kaum Kriegs­­schäden zu beklagen, und während das eine demon­tiert und nach Jena, Kiew und Stuttgart ver­lagert wurde, konnte Leitz relativ zügig wieder Kameras produzieren. Ende 1946 war die Fertigung auf monatlich 1.100 Exemplare des Modells IIIc hoch­gefahren, die zu 95 % an die alliierten Besatzungstruppen ausgeliefert wurden, vornehmlich an die US-Militär­regierung (1).

 

Hensoldt Publica
Schriftzug PUBLICA mit Hensoldt Prismenlogo

Das ZEISS Werk in Jena lag in der russi­schen Zone. Die 1945 dort einmarschierten Ameri­kaner hatten vor dem Eintreffen der roten Armee eine Anzahl Mitarbeiter samt Material in den Westen gebracht und damit die Keim­zelle für den Neustart von ZEISS in Ober­kochen gelegt. Inklusive der Carl-Zeiss-Stiftung. Das hatte auch Aus­wirkungen auf Hensoldt in Wetzlar, die mehrheitlich zu ZEISS gehör­ten und nun statt nach Jena nach Oberkochen berich­ten mussten.

 

Die auf Rüstungs­produkte an­gelegte Fertigung von Hensoldt war komplett wegge­brochen und Ersatz bitter nötig. Deutsche Kameras waren bei vielen Militärs heiß begehrt, die US-Militär­re­gierung dräng­te … und so sprang man als gestan­dene Optik­werkstatt ambitioniert aber unvorbereitet ins Kamera­­geschäft.

 

Hensoldt Publica Kameras

Ein kurzes Abenteuer

Es war ein Scheitern mit Ansage! Nicht im Wett­be­werb mit anderen Herstellern - soweit kam es gar nicht - es fehlte schlicht­weg ein marktgerechtes Kon­zept mit Voruntersuchungen und eine solide Kalkulation. Ob die Idee für eine Kamera bereits vorher in irgend­welch­en Schub­laden gelegen hatte, ist wie die gesamte Anfangsphase des Projekts leider nicht detailliert nachvoll­zieh­bar. Auch nicht der Hintergrund für Objektive von Schneider-Kreuznach oder die Positionierung gege­nüber den ZEISS Ikon Kameras. Zur Erinnerung: Hensoldt war Teil des ZEISS Konzerns, und darin gab es bereits Kameras und wunderbare Objektive!

 

Statt darauf zurückzugreifen bekam­en die Hensoldt Mit­arbeiter der Versuchs­ab­tei­lung den Auftrag, Kameras zu fertigen. Unklar ist, welche Unterlagen dazu überhaupt verfügbar waren.

 

Hensoldt Publica
Publica mit Schneider-Kreuznach XENAR 3,5/50 mm

Ver­mutlich hatte Dr. Hans Hensoldt, Enkel von Moritz und Sohn von Carl Hensoldt, die neue Kamera unter bewusster Auslassung der ZEISS Fachleute voran­ge­trieben. Carl und Hans Hensoldt standen ohnehin seit Jahren im „weltanschaulichen Gegensatz“ und offenem „Kampf gegen ZEISS“ und hatten im Gegensatz zu ZEISS die „Wirtschaftsziele des Führers, insbesondere auf dem Gebiet der Aufrüstung, rechtzeitig erkannt und nach besten Kräften unterstützt“. (2) Durch diese Anbiederung und ihre NSDAP-Kontakte wollte die Familie Hensoldt „ihre“ frühere Firma von ZEISS zurückholen, die 1928 die angebotene Aktienmehrheit übernommen und dadurch das Hensoldt Werk vor einem Konkurs bewahrt hatte.

 

Aufgrund seiner NS-Vergangenheit musste Hans Hensoldt nach Kriegsende das Unter­nehmen verlassen. Er gründe­te daraufhin eine eigene Firma und bot unter „Dr. Hans Hensoldt“ Fern­gläser und die „Henso Standard“ und „Reporter“ Kameras an … aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

Hensoldt Publica

Das Aus für die Publica

 Als Josef Dinser, der von ZEISS in Oberkochen neu be­stell­te Ge­schäfts­­führer für Hensoldt seine Stellung antrat, empfand er die Situation mit der Publica von Beginn an katastrophal und schreibt rück­blickend: „Als ich im März 1946 nach Wetzlar kam, lag hier ein hand­­gefertigtes Modell der bewuß­ten Kamera vor. Weder endgültige Konstrukti­ons­­zeich­nungen waren fertig­gestellt, noch sonst die Fertigung dieser Kamera sachgemäß vor­bereitet“. (3)

 

Kurz vorher, im Februar 1946, hatte sich Dr. Gerhard Hansen aus dem Forschungs- und Entwicklungs­bereich von ZEISS mit der Kamera beschäftigt und dabei notiert:

 

a) Die Verschlusszeiten der Publica umfassten 1/25 bis 1/500 sec und B. Contax und Leica boten bereits die 1/1250 bzw. 1/1000 sec, vor allem aber die längeren Zeiten bis 1 sec.

 

b) Meßbasis und Vergrößerung des Meß­suchers er­gaben nicht die notwendige Fokusgenauigkeit für licht­starke oder langbrennweitige Objektive mit geringer Schärfen­tiefe. Auch hier war Contax durch eine größere Meßbasis und Leica durch eine höhere Vergröße­rung besser aufgestellt.

 

c) Die angepeilte Fertigungsmenge von monatlich etwa 250 Kameras mit 70 Arbeitskräften plus Material konnten nach Hansens Kalkulation keinen wettbewerbsfähigen Preis ergeben, der wie angestrebt 20 - 25 % unter dem Leica Preis liegen sollte.

 

Hensoldt Publica

So kam es dann auch. Paul Henrichs, der Auf­sichtsrat-Vor­sitzende der Hensoldt AG, erläuterte 1948 noch­mal die Entscheidung und erwähnt dabei zusätz­­lich die unklare Patentsituation: „Bei der Entwick­­lung der »Publica« ist keine Rücksicht darauf genom­men wor­den, ob und gegen welche frem­den Schutz­rechte sie verstößt; offen­bar ist das aber in bedenk­lich­em Um­fange der Fall.“

 

Und er geht nochmal auf die ursprüngliche Intention ein, die vornehmlich auf das Militär abzielte und den normalen Wettbewerb im Fotomarkt vielleicht gar nicht im Auge hatte: „Die Kamera ist seiner­zeit auf Drängen der US-Militärregierung in Angriff genommen worden, die Kameras in größeren Mengen haben wollte. In­zwisch­en hat, wie von ander­en Firmen bekannt ist, die Nach­frage in den PX-Läden [Anm.: PX Läden waren speziell für US-Armeeangehörige] stark nachgelassen. Die Publica hätte sich fraglos als nicht exportfähig herausgestellt; ihre Fertigung hätte – wäre sie erfolgt – mit Sicherheit eingestellt werden müssen.“ (5)

 

So attraktiv das Modell auf den ersten Blick erscheint, … ver­mut­lich war das die richtige Einschätzung!

 

Hansen schließt seinen Bericht:

„Nach meiner Meinung wird die Kamera, auch wenn der entsprechende Vertriebsapparat vorhanden wäre, sich gegen Leica und Contax nicht durchsetzen. Außer­dem ist es fraglich, ob die Fertigung, auch eines kon­struktiv verbesserten Modells, so aufgezogen werden kann, daß ein Verlustpreis vermieden wird. Die bisher gemachten Angaben sprechen dagegen. Ich bin des­halb nicht dafür, die Kamera zu fertigen.“ (4)

 

 

Hensoldt Publica

Die fertigen Modelle

Anhand der Serien-Nummern ist der damalige Ver­bleib der montierten Kameras erstaunlich gut doku­men­tiert. Daher weiß man zum Beispiel:

 

 Die Kamera mit der Nr. 125 be­kam der Konstruk­­teur Jür­gen F. mit Rech­nung vom 28.8.1946, die Nr. 131 ging nach Wies­baden an den Regierungs­präsidenten Martin Nischal­ke, die Nr. 137 wurde in Olpe gegen eine elektrische Rechen­maschine einge­tauscht und die Schutz­polizei Wetz­lar erhielt die 140. Die ersten knapp zwei Dutzend Kameras waren Ende 1945 bereits an die US- Militärregierung abgeliefert worden. (6)

 

Die komplette Liste und andere Schriften sind wohl­­ver­wahrt im ZEISS Archiv in Jena und stan­den dan­kens­werter Weise für die Recherche zur Verfügung.

 

Für sämtliche Fotos und die folgende Beschreibung der technischen Details standen die Modelle 127, 129 und 142 aus dem Besitz von ZEISS sowie Nr. 143 aus dem Kamera-Museum Heuchelheim zur Verfügung.

 

 

Hensoldt Publica
Verschlussaufzug und Filmtransport

Die Technik der Publica

Die Publica ist eine Meßsucher-Kamera für das Bild­format 24 x 36 mm. Zur Entfernungsmessung dient neben dem großen Sucherfenster das zweite, runde Fenster oberhalb des Objektivs.

 

Die verfügbaren Modelle besaßen alle ein versenkbares Ob­jek­tiv Schneider Kreuznach Xenar 3,5/5 cm mit Schraub­­gewinde M39.

 

Im Sucher gibt es keine Markierungen für den Bild­aus­schnitt bei anderen Brennweiten. Ohne Zubehör­schuh können Aufsteck­sucher nicht genutzt werden.

 

Hensoldt Publica
Offenliegender Verschluss und Mitnehmer für die Mischbild-Entfernungsmessung

Rückwand und Bodendeckel bilden eine Ein­heit, die zum Filmwechsel nach unten abge­zogen wird. Die Kamera besitzt keine Rück­spulmöglichkeit für den belichteten Film. Die damals bereits ein­ge­führten Filmpatronen mit fixier­tem Film­ende können daher nicht genutzt werden, stattdessen muss mit zwei Film­dosen hantiert werden.

 

Das Zeiteinstellrad wird zum Verstellen ange­hoben und bietet B - 1/25 - 1/50 - 1/100 - 1/250 - 1/500 sec. Der Auslöseknopf für den horizontal ablaufenden Tuchschlitzverschluss befindet sich etwas gewöhnungs­bedürftig auf der Vorder­seite.

 

 Vorhanden sind: Bildnummernzähler und 3/8“-Stativ­an­schluss. Bei späteren Modellen auch ein Drahtauslöser­anschluss und eine Filmtransport-Kontrolle.

 

Nicht vorhanden sind: Zubehörschuh, Blitzkontakt, Selbstauslöser, Tragriemenbefestigung.

 

 

Hensoldt Publica
Publica mit abgenommener Rückwand

Änderungen während der Bauzeit      

Unterschiede der Serien-Nr. 142 und 143 zu vorherigen:   

Draht­aus­löser­an­schluss im Aus­löse­knopf, rot umrandetes Loch in der Deck­kappe zur Filmtrans­port-Kontrolle (zusätzlicher Mitnehmer innen), größeres Zeitenrad mit 19 mm Durchmesser (vorher 15 mm). Statt „Hen­soldt Werke“ ist das Prismen-Logo graviert und der „Publica“ Schriftzug ist modifiziert. Viele störende Schrauben der ersten Prototypen sind nicht mehr sichtbar. Die Deckkappe ist etwas tiefer und das vordere Sucherfenster etwa 1 mm zurückgesetzt.

 

Vermutlich gab es während der Fertigung immer wieder Änderungen zu Versuchszwecken oder um Erfahrungen um­­zu­setzen, oder einfach aufgrund der prekären Nachkriegs-Materialversorgung.

 

Gewicht Kamera ohne Objektiv:         

Nr. 127: 330 g / Nr. 142: 350 g / Nr. 143: 355 g  

Gewicht Objektiv Schneider Xenar 3,5/5 cm: 70 g            

Größe mit versenktem Objektiv:

148 mm x 70 mm x 49 mm.

 

Hensoldt Publica
Zwei Ausführungen Sucherfenster
Hensoldt Publica
Zwei Ausführungen

Schlussbemerkung

Unter anderen Um­stän­den hätte eine Kamera in die­sem Wetzlarer Optik-Unter­­nehmen mit viel Know­how durch­­­aus ent­­wickelt und gebaut werden können. So aber dauerte die kurze Ära der Hensoldt Publica keine zwei Jahre und es blieb bei 42 Kameras mit den Serien-Num­mern 101 bis 143. Die 141 hatte man aus unge­klärten Gründen ausgelassen.

 

Das zuletzt fertiggestellte Exemplar mit der Nr. 143 ist übrigens eines der Schmuckstücke im Kamera-Museum Heuchelheim, ganz in der Nähe von Wetzlar.

 

Die Hensoldt Publica ist sicher nur eine Randnotiz in der Historie der Kameratechnik. Auch wenn sie erfolglos blieb, sollten die ersten Wetzlarer Meßsucherkameras und ihre bemerkenswerte Geschichte aber nicht vergessen werden.

 

 

Quellenverzeichnis

 (1) British Intelligence Objectives Sub-Commitee (B.I.O.S) Final Report No. 1436, November 1946

(2) Schreiben Dr. Hans Hensoldt an Staatsrat Schieber, Februar 1942 (Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, HHStAW 520/16, 17122)

(3) Bemerkungen von Josef Dinser, Juli 1947 (ZEISS Archiv Dokument CZO 1648)

(4) Bericht zur Publica von Dr. Gerhard Hansen,

Febr. 1946 (ZEISS Archiv Dokument CZO 7164)

(5) Schreiben von Paul Henrichs an Rechtsanwalt Jung, Frühjahr 1948 (ZEISS Archiv Dokument CZO 1468)

(6) Liste ausgelieferte Kameras, Oktober 1947 von Hild, Dinser, Faust (ZEISS Archiv Dokument CZO 1470)